Pflegehorizonte Annemarie Fajardo

Über

Die Altenpflegebranche habe ich über meine Ausbildung zur Altenpflegerin und später dann über die Weiterbildungen zur Wohnbereichsleitung und Pflegedienstleitung mit all ihren Herausforderungen kennengelernt. Am besten gefallen mir die Menschen, mit denen ich seit dem Eintritt in diese Branche zusammenarbeite. Studiert habe ich außerdem in den letzten 12 Jahren noch berufsbegleitend Pflegemanagement und Wirtschaftspsychologie. Erfahrungen habe ich insbesondere in leitenden, referierenden und beratenden Positionen  gemacht. Heute bin ich bei den Pflegepionieren beschäftigt und habe einen besonderen Fokus auf die Befähigung von Pflegemanager:innen in stationären und ambulanten Einrichtungen. Mithilfe meiner unterrichtenden Tätigkeiten als Dozentin oder auch als Lehrbeauftragte kann ich die praktischen Erfahrungen, die ich in den Betrieben täglich sammle, sehr gut mit dem theoretischen Wissen an den Hochschulen kombinieren und dem Pflegemanagement-Nachwuchs damit auch Perspektiven zu den Gestaltungsmöglichkeiten im heutigen Gesundheitssystem aufzeigen.

Beratungsthema bei Pflegehorizonte 2022

SGB XIII – Eine Infrastruktur für die professionelle Pflege in Deutschland

Warum ist Ihr Thema relevant? Was können die Teilnehmer:innen erwarten?

Erzählungen und ihre Bilder prägen uns. Die Pflegeversicherung nach dem Sozialgesetzbuch XI ist unbestritten eine positive Errungenschaft. Doch sie hat Bilder und Erzählungen hervorgebracht, die den beruflich tätigen Pflegefachfrauen und Pflegefachmännern in der Ausreifung ihrer Kompetenzen, sprich ihrer Professionalisierung, im Wege stehen und so auch den Aufbau moderner Versorgungsstrukturen im deutschen Gesundheitswesen seit mehr als zwei Jahrzehnten verhindern. Mit dem SGB XI kam zur Schonung der Versichertengelder die große Erzählung von der „Verhinderung einer Pflegebedürftigkeit“ in die Welt und die Stigmatisierung von Menschen als „Pflegefall“. Es soll ein „Zustand“ bei alten Menschen verhindert werden, der zur Inanspruchnahme von „Pflegeleistungen“ führt. Paradox daran ist, dass die berufliche Pflege* weder über Pflege- oder Krankenversicherung (SGB V) derart eingebunden ist, als dass sie „Pflegebedürftigkeit“ überhaupt verhindern könnte.

Die professionelle Pflege in Deutschland ist vom Bild einer „Pflegeversicherungspflege“ überlagert und das heißt zugespitzt, dass sie ein „Hausfrauenäquivalent“ darstellt. Die Aufgabe der professionellen Pflege in Deutschland ist es bis heute nicht, v.a. strukturiert in die Chronikerversorgung eingebunden zu werden, um frühzeitig die komplexen Versorgungssettings mit ihren changierenden präventiven, kurativen, therapeutischen, rehabilitativen, pflegerischen und palliativen Anlässen und Episoden gut handhaben zu können. Vor allem die versorgungspolitisch so viel beschworenen präventiven Potenziale können beruflich Pflegende aufgrund ihrer beschnittenen Kompetenzen weder im stationären und schon gar nicht im ambulanten Bereich mit den Patienten und Patientinnen sowie deren An- und Zugehörigen – die allesamt nicht immer nur „alt“ sind – in Wirkung bringen. Eine frühzeitige Einbindung der Fachpflege geschieht nur in den unzähligen Forschungs- und Modellprojekten als z.B. Pain oder Demenz Nurse. Seit über 20 Jahren wird eine „Projektitis“ finanziert wie aktuell im Innovationsfonds der gesetzlichen Krankenversicherung (§92a und b SGB V), die bislang an der großen Erzählung der „Pflege“ nichts zu ändern vermag. Nach wie vor werden v.a. in der ambulanten und stationären Langzeitpflege über den Medizinischen(!) Dienst mit Versichertengeldern bürokratische „Vormund- und Kontrollstrukturen“ für die Fachpflege finanziert, die im Lichte moderner datengestützter Versorgungsverträge eine nicht mehr zeitgemäße Doppelstruktur darstellen. Finanziert wird vor Ort in den Gemeinden und Stadtteilen zudem eine „Nebeneinanderherumfahren“-Organisationspraxis von Pflege und hausärztlicher Versorgung, die so ressourcenverschwendend ist, dass es auch ohne explodierende Sprit- und Umweltkosten nie ausreichend Personal und Geld für eine gute Versorgung geben wird. Der diesem System zugrundeliegende historische „Arztvorbehalt“ wird auch nicht mit weiteren Modellen zur „Heilkundeübertragung“ (§64d SGB V) abzulösen sein, da diese derzeit als sozialrechtstechnisch geschaffene Artefakte angelegt sind. Auf Grundlage dieser historischen Organisationspraktiken wird auch die Digitalisierung ihre Potenziale nicht entfalten. Vor allem Fachkräftemangel und Finanzierungsfragen müssen vor diesen schwierigen und konfliktreichen Kontexten reflektiert werden.

Die große Erzählung des SGB XI setzte in den 1980er Jahren bereits auf überholte Bilder auf und zwar erstens auf dem Bild, dass Frauen zuhause bleiben und ihre alten Angehörigen pflegen, und zweitens auf dem Bild der Deprofessionalisierung, denn falls die Hausfrau nicht pflegt, kommt der Pflegedienst. Dieses gesellschaftliche „Versorgungsschnittmuster“ verweist die deutsche berufliche Pflege bis heute an den Katzentisch des Versorgungssystems. So hat sie international den Rang eines Assistenzberufes und nicht den einer eigenständigen Profession. Würde die berufliche Pflege in Deutschland nicht als „Hausfrauenäquivalent“ und „Zuarbeiterin“ des Arztes gesehen, hätten Politik und Selbstverwaltung die längst notwendige institutionelle Infrastruktur geschaffen, wie sie die Ärzteschaft schon vor 100 Jahren mit anhaltender Unterstützung von Politik und Kassen „ausentwickeln“ konnte. Politik, Kostenträger, Gesellschaft und auch inzwischen Teile der beruflich Pflegenden müssen sich fragen, ob sie die alten Weltbilder für zukunftsweisend halten oder, ob sie im Rahmen einer „Aufbaudekade Fachpflege“ die allseits bekannten Versorgungsherausforderungen der Zukunft angehen wollen.

Die professionelle Pflege in Deutschland hat einen historisch-strukturell-institutionellen Nachholbedarf, damit sie überhaupt in die Zukunft gelangen kann. Die Rechtsregeln und Rahmenbedingungen für die professionelle Pflege in Deutschland sind systemisch betrachtet eine „zerfledderte Lose-Blatt“-Sammlung, ganz zu schweigen davon, dass sie in die Nähe moderner, datengestützter und transparenter Klassifikations- und Erfassungssysteme käme, obwohl dies ein Anspruch ist, den vor allem Politiker und Kostenträger stets vom System erwarten, das sie selbst gestalten. Die Expert:innen des IPAGs fordern eine „Aufbaudekade für die Fachpflege“. Im Zentrum dieser steht die Schaffung eines eigenen Sozialgesetzbuchs XIII, mit dem die professionelle Pflege ein leistungsrechtlich „gebundenes Buch“ erhält. Darüber hinaus braucht es ein Weiterbildungsentwicklungsgesetz sowie die Institutionalisierung ihrer Selbstverwaltung im System der Kranken- und Pflegeversicherung. Es geht hierbei nicht nur darum, im Versorgungssystem ein gleichberechtigter Akteur zu sein, denn eine Tandem-Versorgung durch Fachpflege und Medizin ist zwingender Bestandteil der Daseinsvorsorge zur Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips. Es geht hierbei vor allem auch darum, dass deutsche Gesundheitssystem strukturell aus dem 20. in das  21. Jahrhundert zu bringen, denn die Versorgungsmoderne kann nur mit einer professionellen Pflege beginnen.

Im Alltag bleibt oft keine Zeit außerhalb des eigenen Betriebes bzw. des eigenen Tätigkeitsfeldes die Versorgungstrukturen zu hinterfragen und neu zu denken. Freuen Sie sich auf unseren Impulsvortrag und diskutieren Sie mit uns!

*Professionelle und berufliche sowie Fachpflege sind identisch verwendete Bezeichnungen

Wie ordnen Sie den Kongress in den Kontext der Pflege ein?

 

Der Kongress dient der Vernetzung von Pflegefachpersonen und Führungspersonen aus dem professionellen Pflegesetting. Durch die sehr gut ausgesuchten Themen können neue Impulse für den Pflege- und Managementalltag gewonnen werden. Wichtig erscheint mir persönlich aber immer der Dialog miteinander.